Der Sport muss zum Menschen kommen

Sportivity: Warum Sport und Bewegung neu gedacht werden müssen

Sport beschäftigt uns

Die guten Nach­richten zuerst: Sport beschäf­tigt uns im Alltag, wie selten zuvor. Er ist ein Lebens­ge­fühl des 21. Jahr­hun­derts, zu dem jeder eine Posi­tion bezieht. Sport oder Spor­ti­vity ist Thema bei Partys, defi­niert das Körpe­rideal in der Vorstands­etage, prägt die Mode und ist Dauer­thema in den Medien – ob aufgrund eines Sport­er­eig­nisses, Tipps zur Gesund­heit oder dem nicht enden wollenden Lamen­tieren über die bewe­gungs­faule Gesell­schaft. Fakt ist, dass 75 % der Zentral­eu­ro­päer laut Umfragen gerne mehr Sport betreiben würden.

 

„Megatrends“ generieren neue Sportmotive

Hinter­grund für den derzeit radi­kalen Wandel der Sport­ge­sell­schaft in Rich­tung Spor­ti­vity sind „Mega­trends“ wie etwa Gesund­heit, Indi­vi­dua­li­sie­rung, Konnek­ti­vität, New Work, Sicher­heit oder Urba­ni­sie­rung. Diese großen Umwäl­zungen unseres Alltags schaffen neue sozio­kul­tu­relle Entwick­lungen und gene­rieren verän­derte Bedürf­nisse bei den Menschen. Diese Trans­for­ma­tion zur „Spor­ti­vity“ modu­liert die Motive des Einzelnen für die Ausein­an­der­set­zung mit Sport:

  • Sport bleibt Unter­hal­tung und Event, bei dem sich der einst passive Fan mehr und mehr aktiv einbringt und zum co-aktiven Zuschauer wird.
  • Sport ist eine Frage des Images, ein Mittel zur Selbst­dar­stel­lung und lässt damit Sport­muffel zu Sport­sty­listen werden.
  • Bewe­gung ist eine Form der Zustands­re­gu­la­tion des Einzelnen, wenn sie dem Ausgleich und Wohl­be­finden dient.
  • Sport ist mehr denn je Verpflich­tung zum Zwecke der Gesund­erhal­tung und wird dadurch zum Thema der Arbeit.
  • Sport bleibt wichtig als verbin­dendes Element für Gemein­schaft, das neue Wir-Gefühl wird jedoch anders als einst erzeugt.
  • Sport hat natür­lich auch das Ziel der Verbes­se­rung, des Gewin­nens, insbe­son­dere dann, wenn neue Tech­niken Leis­tungen ermög­li­chen, die vorher nicht denkbar waren.
  • Und Sport hat den Thrill und Adre­na­lin­kick als Motiv, wodurch die Grenzen verschoben werden und das Nicht­ge­dachte auspro­biert wird.

 

Sportivity: Neue Qualitäten des Sports erfordern neue Bedingungen für Sport

Die verbin­denden Elemente dieser Bedürf­nisse und Motive der Menschen an den Sport basieren auf drei Werten: Leis­tung, Iden­tität und Lebens­en­ergie. Die Kombi­na­tion dieser drei Quali­täten bildet die Grund­pfeiler der Spor­ti­vity und die Voraus­set­zung für die funk­tio­nie­rende Zivil­ge­sell­schaft der Zukunft. Um das zu errei­chen, müssen unter Berück­sich­ti­gung der Mega­trends und ihrer Auswir­kungen auf die Sport­mo­tive der Menschen jedoch neue Bedin­gungen geschaffen werden, unter welchen Sport zukünftig möglich wird.

 

Die Autorin

ANJA KIRIG
ANJA KIRIG
Anja Kirig ist seit 2005 als Trend- und Zukunfts­for­scherin tätig. Schwer­punkte ihrer Arbeit sind die Themen Tourismus, Sport, Frei­zeit, Neo-Ökologie, Gesund­heit, Ernäh­rung und neue Geschlech­ter­rollen. Im Fokus stehen dabei sozio­kul­tu­relle Entwick­lungen, deren Auswir­kungen auf Lebens­stile und die sich daraus entwi­ckelnden neuen. Bedürf­nis­struk­turen. Die Poli­to­login lebt und arbeitet in Stutt­gart.

Der Sport muss zum Menschen kommen, nicht der Mensch zum Sport

Wir leben in einer Zeit, in der Orts- und Zeit­fle­xi­bi­lität in jedem Aspekt unseres Alltags umsetzbar sein muss. Die großen Trend­ent­wick­lungen wie etwa Mobi­lität, Globa­li­sie­rung und Konnek­ti­vität erfor­dern und ermög­li­chen, dass wir von überall aus arbeiten, einkaufen, kommu­ni­zieren können. Diesen Ansprü­chen muss auch der Sport gerecht werden, indem er dem Konsu­menten ein Höchstmaß an Flexi­bi­lität ermög­licht. Umfragen zeigen schon heute, dass ein Groß­teil der Euro­päer Sport zu Hause oder unter­wegs zwischen zwei Orten betreibt. Der Sport der Zukunft muss den Menschen dort errei­chen, wo dieser sich aufhält.

 

Sport ist eine Aufgabe der Arbeit

Und damit werden Sport und Spor­ti­vity auch zu einer der großen Aufgaben der Arbeits­welt. Die Inte­gra­tion der Bewe­gung in den Berufs­alltag muss ähnlich konse­quent verfolgt werden wie Sport­an­ge­bote im Bildungs­system gefor­dert werden. Denn die große Lücke der Nicht­sportler ist genau hier zu finden. Mit Eintritt in die Berufs­tä­tig­keit sinkt die Akti­vi­täts­phase rapide ab, steigt erst wieder in der Rente an. Arbeit als Hinde­rungs­grund für Sport wird von rund jedem Zweitem genannt. Dabei geht es nicht nur um gesund­heit­liche Quali­täten, sondern auch um die Förde­rung eines inno­va­tiven und krea­tiven Arbeits­geistes. Hierbei muss auf die indi­vi­du­ellen Bedürf­nisse des Einzelnen Rück­sicht genommen und ihm genü­gend Selbst­ver­ant­wor­tung für Zeiten und Inten­sität über­tragen werden. Wichtig ist vor allem, dass Sport als bezahlter Teil der Arbeit und nicht als eine Extra­leis­tung nach Feier­abend ange­sehen wird.

 

Standorte und Destinationen benötigen eine Sport-Infrastruktur

Eine funk­tio­nie­rende Sport-Infra­struktur trägt auch zum Erfolg einer ganzen Desti­na­tion bei. Die nach­fol­genden Gene­ra­tionen haben hohe Ansprüche an Arbeits- und Lebens­welten. Der Zugang zu Sport­mög­lich­keiten muss hier gegeben sein. Auch hier ist wieder zu beachten, dass die Palette der Sport­be­dürf­nisse abge­deckt wird und sowohl die Flexi­bi­lität, wie auch die Einbin­dung in die Unter­neh­mens­kultur garan­tiert ist.

 

Sportivty fordert Sportvereine heraus

Das Bedürfnis nach Flexi­bi­lität hat in den letzten Jahren Indi­vi­du­al­sport­arten populär gemacht. Doch die Sehn­sucht nach Gemein­schaft bleibt, und kombi­niert mit neuen digi­talen Möglich­keiten haben sich über soziale Netz­werke neue, infor­melle Sport­gruppen etabliert. Unab­hängig von Vereinen lässt es sich spontan und ohne weitere Verpflich­tungen gemeinsam trai­nieren. Die Unkom­pli­ziert­heit von Gemein­schaften, denen man jeder­zeit beitreten und sie auch wieder verlassen kann, ist ein wich­tiges Krite­rium. Die Konnek­ti­vität trägt hier maßgeb­lich zu neuen Trai­nings­ver­bänden bei, fordert aber auch auf anderer Ebene noch die Vereine in ihren alten Struk­turen heraus. Auch weil Technik immer mehr zum Trainer wird: Etwa durch „Weara­bles“, die künftig nicht mehr nur am Hand­ge­lenk sitzen, sondern sich im Ball, am Körper oder sogar im Körper befinden werden.

 

Amagar Bakke, Aha-Effekte und Atmosphäre

Ein Gespräch mit Anja Kirig

Erzählen Sie uns von Ihren Lieblings-Sportanlagen.

Amager Bakke (Bild links) fasziniert mich. Alle Konzepte, in denen Work-Life-Blending möglich ist, wo die Arbeit zum Sport oder der Sport zur Arbeit kommt. Für die Bevölkerung niederschwellig und am besten kostenlos nutzbare Sportanlagen, die von Vereinen wie inoffiziellen Sportgruppen gleichermaßen genutzt und gepflegt werden.

 

Welche Architekten und Gebäude haben Sie nachhaltig beeindruckt?

Ästhetisch ansprechende, gleichzeitig multifunktional nutzbare Gebäude, die sich am besten noch mit den Bedürfnissen der Zeit anpassen.

 

Was und wen halten Sie für die Trends und Trendsetter der Branche?

Neues Arbeiten, Individualisierung, Konnektivität, Mobilität und klar: ein neues Gesundheitsverständnis.

 

Welches Buch sollten Architekten in dieser Branche gelesen haben?

Architekten sollten sich ständig mit den zukünftigen Bedürfnissen und Trendentwicklungen der Gesellschaft auseinandersetzen. Gute Anregungen und Aha-Effekte kommen häufig aus fachfremder Literatur. Das geht mir oft ganz ähnlich.

 

Was ist/war Ihr Lieblingslied beim Schreiben?

Ich höre grundsätzlich keine Musik beim Arbeiten, mag aber den „urban Sound“ um mich herum: Menschen auf den Straßen, Busse, mitunter auch der Geräuschpegel eines Cafés. Ich schätze die Atmosphäre von Büchereien ebenso wie das Arbeiten in Zügen.

Sicherheit und Qualität werden zu Kernthemen

Tech­ni­sche Inno­va­tionen bringen mehr Menschen zum Sport, erhöhen die Sicher­heit, stellen aber gleich­zeitig auch mögliche Gefahren dar. Technik braucht Qualität, genauso wie Trainer neue Quali­täten mitbringen müssen, wenn sie auf Kunden treffen, die inno­vativ trai­nieren möchten. Zusätz­lich bedarf es Ideen, wie auch Indi­vi­du­al­sport­arten ein Höchstmaß an Sicher­heit bieten können. Denn gerade durch den verein­fachten Zugang, beispiels­weise zu Wasser- oder Berg­sport erhöht sich die Nach­frage nach Sicher­heit und Qualität in Ausrüs­tung und Unter­wei­sung, auch mit Hilfe digi­taler Methoden.  

Kommunikation richtet sich an Lebensstile und nicht an Zielgruppen

Wichtig für die Zukunft des Sports ist, dass in der Sport­ge­sell­schaft nicht mehr äußere Faktoren wie Alter, Herkunft oder Geschlecht maßgeb­lich sein dürfen, sondern der Mensch in seinem jewei­ligen Lebens­stil ange­spro­chen werden muss. Das verbin­dende Element zwischen der 70-jährigen Rent­nerin, dem homo­se­xu­ellen Fami­li­en­vater, der syri­schen Studentin und dem blinden Unter­nehmer ist die Leiden­schaft für Fußball, Klet­tern oder Schwimmen.  

Perspektive

Das Phänomen Sport war noch nie so komplex und mehr­di­men­sional, wie es sich in der Gesell­schaft des fort­schrei­tenden 21. Jahr­hun­derts präsen­tiert. Sport zeigt sich in seiner Ausübung sehr paradox, vereint in der Praxis aber auch schein­bare Wider­sprüche. So lässt sich einer­seits eine Verein­fa­chung wie auch Profes­sio­na­li­sie­rung beob­achten; es findet sowohl eine Verlang­sa­mung wie auch Extre­mi­sie­rung statt und parallel zur Sehn­sucht nach mehr Selbst­be­stim­mung im Sport, steigt der Wunsch nach mehr Sicher­heit. Andere Aspekte wiederum, etwa On- und Offline, Indi­vi­duum und Gemein­schaft, Passi­vität und Akti­vität sowie Frei­zeit und Arbeit vermi­schen sich, gehen inein­ander über und stellen dadurch die „alte“ Sport­kultur vor große Heraus­for­de­rungen und sogar in Frage. Die Sport­ge­sell­schaften der Zukunft sind aber auch eine Chance für Kultur, Gemein­schaft, Bildung und Arbeit, wenn recht­zeitig auf die Phäno­mene reagiert und der Zugang zur Spor­ti­vity ermög­licht wird.

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