Game-Changing
Eye-Tracking in der Architektur
Form follows brain function
Während sich viele Architekten noch immer an den Satz “Form follows function” klammern, könnte „Form follows brain function“ das Motto heutiger Werbetreibender und Automobilhersteller sein. Die setzen zunehmend Hightech-Werkzeuge einsetzen, um verborgene menschliche Verhaltensweisen zu verstehen und ihre Produkte entsprechend zu gestalten – ohne jemals unsere Erlaubnis einzuholen.
Biometrische Werkzeuge wie ein EEG (Elektroenzephalogramm), das Gehirnwellen misst, eine Mimik-Analyse-Software, die unseren sich ändernden Ausdrücken folgt, und das Eye-Tracking, das es uns ermöglicht, “unbewusste” Augenbewegungen aufzuzeichnen, sind bereits heute in der Werbung und Produktentwicklung allgegenwärtig. Mit Eye-Tracking bezeichnet man das Aufzeichnen der hauptsächlich aus Fixationen (Punkte, die man genau betrachtet), Sakkaden (schnellen Augenbewegungen) und Regressionen bestehenden Blickbewegungen einer Person. Als Eyetracker werden Geräte und Systeme bezeichnet, die die Aufzeichnung vornehmen und eine Analyse der Blickbewegungen ermöglichen. Das Eye-Tracking wird als wissenschaftliche Methode in den Neurowissenschaften, der Wahrnehmungs‑, Kognitions- und Werbepsychologie, im Produktdesign und der Leseforschung eingesetzt.
Was passiert, wenn man biometrische Messungen wie das Eye-Tracking auf die Architektur anwendet? Mehr als wir erwartet haben.…
Wir haben seit 2015 vier Pilotstudien durchgeführt, die sich mit Gebäuden in Stadt und Vorort (New York City, Boston, Somerville und Devens, MA) beschäftigen – und wir sind der Meinung, dass diese Technologien unser Verständnis der Wirkung von Architektur auf die Menschen gehörig durcheinanderwirbeln.
Wir können schon jetzt menschliche Reaktionen vorhersagen, zum Beispiel, ob Menschen außerhalb eines neuen Gebäudes verweilen oder sofort die Flucht ergreifen wollen. (Mehr über unsere erste Eye-Tracking-Studie in der Titelgeschichte des Planning Magazine, Juni 2016.)
Sehen Sie, wie wir Gebäude sehen. Hier sind drei unerwartete Erkenntnisse aus dem Eye-Tracking in der Architektur.
Autor
Fotos
Ann Sussman
(unless otherwise noticed)
Vielen Dank an
- Common Edge (hier erschien der Artikel zuerst)
- Boston’s Institute for Human-Centered Design
- The Devens Enterprise Commission
- Prof Justin B. Hollander und Hanna Carr ‘20, Tufts University
- Dan Bartman, City of Somerville Planning Department
- Für “game-changing technological tools”: iMotions und 3M VAS
1. Menschen ignorieren leere Fassaden
Menschen neigen überhaupt nicht dazu, auf große, leere Dinge oder Flächen zu blicken, zum Beispiel auf Fassaden ohne Funktion oder auf sich wiederholende Glasfassaden. Dafür sind unsere Gehirne nach 3,6 Milliarden Jahren Evolution einfach nicht geschaffen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass uns große, leere und nichtssagende Dinge selten getötet haben. Oder anders ausgedrückt: Unsere heutige moderne Architektur gibt es noch nicht lange genug, um unsere Verhaltensweisen und unser zentrales Nervensystem zu beeinflussen, das sich über Jahrtausende entwickelt hat, um unser Überleben in freier Wildbahn zu sichern. Aus der visuellen Perspektive des Gehirns könnten leere oder blanke Flächen genauso gut nicht vorhanden sein.
Das Bild oben zeigt zwei Ansichten der NYCs Stapleton-Bibliothek: eine mit den vorhandenen Fenstern rechts und links, eine ohne sie (mit Photoshop retuschiert). Die leuchtend gelben Punkte stellen “Fixationen” dar, die zeigen, wo die Augen in einem 15-Sekunden-Intervall ruhen, die Linien dazwischen sind die “Sakkaden”, die der Bewegung zwischen den Fixierungen folgen. Im Durchschnitt bewegten die Zuschauer ihre Augen 45-mal pro Testintervall, mit wenig bis keiner bewussten Anstrengung. Im Bild links, ohne Fenster, ignorierten die Testteilnehmer das Äußere mehr oder weniger, abgesehen von der Türöffnung. Dies ist bei dem Bild rechts nicht der Fall.
Die Fotos darunter zeigen Heat Maps, die die Betrachtungsdaten mehrerer Personen zusammenfassen. Diese Karten leuchten am hellsten, wo die Menschen am meisten hinsahen. Sie deuten darauf hin, wie wichtig eine strukturierte Fassade sind, denn diese fixiert unsere Blicke und sorgt für Kontrastbereiche. Danach suchen unsere Augen, darauf bleiben unsere Blicke haften. Immer wieder stellten unsere Studien fest, dass Gebäude mit gelochten Fenstern (oder symmetrischen Bereichen mit hohem Kontrast) ins Auge fallen und solche ohne Fenster nicht.
2. Fixation schafft Interesse
Warum ist es wichtig, wo Menschen unbewusst hinschauen? Das ist die ultimative Frage. Im Laufe unserer Forschung haben wir uns ein kognitives Mantra angeeignet: “Fixation schafft Interesse.” Wir haben gelernt, dass unbewusste, versteckte Sehgewohnheiten (wie eben das Fixieren) darüber bestimmen, wohin unsere Aufmerksamkeit geht – und das ist enorm wichtig.
Warum? Unbewusste Fixierungen lenken bewusstes Handeln und Verhalten. Kein Wunder, dass Honda und GM diese Technologie nutzen. Kein Wunder, dass die Werbetreibenden das auch tun. Sie wollen wissen, wo wir hinsehen und wo wir suchen. Auf diese Art und Weise wollen sie unser Verhalten steuern und sicherstellen, dass ihre Anzeige die gewünschte Aufmerksamkeit erregt, und diese dementsprechend gestalten und platzieren.
Und was ist mit der Architektur?
Eye-Tracking kann uns helfen, die Sekundenbruchteile von Erfahrungen zu entwirren, die unser Verhalten Gebäuden gegenüber auf eine Art und Weise bestimmen, die wir vielleicht nie realisieren werden. Um zu sehen, welche Aufschlüsse unser Verhalten zulässt, nehmen wir die Szene oben; links ist der Davis Square in Somerville, MA, ein dichtes Wohnviertel in der Nähe von Cambridge, wo viele Colleges und Geschäfte angesiedelt sind. Rechts im Bild ist eine Photoshop-Version der gleichen Szene zu sehen. Im vergangenen Jahr haben wir mehr als 300 Personen bei Vorträgen gefragt, wo sie lieber stehen und auf einen Freund warten: vor einem leeren Gebäude oder vor einem Gebäude mit dem bunten Matisse-ähnlichen Wandbild. Erstaunlicherweise — ohne jede Rückkoppelung – warten ausnahmslos alle Befragten lieber vor dem Wandbild.
Warum ist das so?
Eyetracking liefert einige interessante Antworten. Das Wärmebild zeigt an, dass das Wandbild Fixpunkte bietet, auf die wir uns konzentrieren können. Diese geben uns eine Art von Bindung, die wir mögen und die wir vielleicht brauchen; ohne diese Verbindungen wissen die Menschen anscheinend nicht, wohin sie gehen sollen. Diese Macht der Fixpunkte ist erstaunlich, aber offensichtlich. Sie treibt unseren Erkundungsgeist voran, ob in Anzeigen oder in der Architektur.
3.Menschen suchen Menschen – immer
Die wichtigste Erkenntnis, die uns unsere Eye-Tracking-Studien in Bezug auf Architektur bescherte, hat ironischerweise nichts mit Gebäuden zu tun: Menschen suchen zuallererst nach Menschen. Wir sind eine soziale Spezies, unsere Wahrnehmung ist relational. Mit anderen Worten: Sie wurde für die Wahrnehmung anderer Menschen entwickelt. Eye-Tracking-Studien belegen dies immer wieder. Ja, Architektur ist wichtig, aber aus der Sicht unseres Gehirns sind Menschen wichtiger. Egal, wo sie sind.
Wir sahen diesen Blick auf Bostons berühmten Copley Square mit seiner historischen Trinity Church (ca. 1877) und dem ebenso historischen Hancock Tower (ca. 1976), der kürzlich den Besitzer wechselte und heute 200 Clarendon heißt (siehe Bilder oben). Im Jahr 2015 zeigte der Turm eine temporäre Kunstinstallation eines Mannes, der auf einem schwimmenden Lastkahn steht. Raten Sie mal, wo die Leute gesucht haben.
Wenn Sie sich für die kleine Silhouette des Mannes entschieden haben, haben Sie Recht. Richardsonian Romanesque, ein Architekturstil der Neuromanik, hat seinen Reiz, aber wenn es um menschliche Körper geht, dann ist es das, worauf Ihr Gehirn sich konzentrieren möchte – das zeigt der rötlichste Bereich auf dem Wärmebild sehr deutlich. Dort guckten die Leute hin, den Rest des Glasturms würdigten sie kaum eines Blickes – er bietet einfach kein Futter, jedenfalls nicht aus der 3,6 Milliarden Jahre alten Perspektive unseres Gehirns.
Was lernen wir daraus?
Die Evolution ist real und wir sind Teil des Prozesses. Das Eye-Tracking von Architektur zeigt uralte Algorithmen, die uns leiten, obwohl wir sie nicht wahrnehmen. Humane Architektur berücksichtigt unsere tierische Natur und unsere bemerkenswerte Geschichte. Unsere Vorfahren lernten auf die harte Tour, ihre Umgebung sofort nach Kontrasten und anderen Lebewesen, insbesondere Gesichtern, abzusuchen, und sie gaben diese arterhaltenden Eigenschaften an uns weiter. Diese Verhaltensweisen werden nicht so schnell verschwinden.
Das stehen wir also: Moderne Menschen, denen wir mit modernster Technik nachweisen, dass sie auf die Silhouette eines Menschen 35 Etagen über uns glotzen. Das hat nicht allzu viel Sinn. Es sei denn, wir berücksichtigen unsere Herkunft und Evolution – und den Überlebenskampf, den wir offenbar auch heute noch zu kämpfen haben.
Ann Sussman
Ann Sussman ist Autorin, Architektin und Forscherin auf dem Gebiet der Biometrie. Ihr Buch „Cognitive Architecture, Designing for How We Respond to the Built Environment“ (2015), gemeinsam mit Justin B. Hollander verfasst, gewann 2016 den EDRA-Preis für Forschung.
Weitere Informationen: annsussman.com. Blog: geneticsofdesign.com.
FÜNF ANTWORTEN
- Erzählen Sie uns von Ihren Top 5 Sportanlagen.
Es gibt eine Arena, die schon immer Teil meines Lebens war: das Kolosseum in Rom! Meine Mutter fand einen Druck von Piranesi, als ich ein Kind war und wir in Europa lebten; wir brachten ihn mit uns in die Vereinigten Staaten zurück, wo sie ihn ins Wohnzimmer hängte. Heute schmückt dieser Druck mein Esszimmer. Bei der Beantwortung dieser Frage wird mir klar, dass ein 2.000 Jahre altes Amphitheater das Gebäude ist, das ich mir am häufigsten angesehen habe! - Welche Architekten und Gebäude haben Sie nachhaltig beeindruckt?
Das andere Gebäude, das einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, ist Palladios Villa Rotunda oder Villa Capra in Italien. Ich habe mich in sie verliebt, als ich Architektur studiert habe. Ich habe sogar Palladios Pläne zu einem lokalen Bäcker gebracht, damit er sie auf meine Hochzeitstorte bringt! Dieses Gebäude beeinflusste das Design unzähliger anderer Bauten auf der ganzen Welt, auch in den USA, auch das Weiße Haus. Und die palladische Fassade des Hauses des amerikanischen Präsidenten ist heute auf jeder ‑Note. Ich konnte nicht verstehen, warum ein Landgut, das für einen pensionierten Vatikan-Kleriker im 16. Jahrhundert entworfen wurde, die amerikanische Demokratie repräsentieren könnte! Also haben wir die Villa ausfindig gemacht — und eine faszinierende Antwort erhalten: In der prä-attentiven Verarbeitung (die ersten 3–5 Sekunden, in denen man etwas betrachtet), suggeriert die Villa ein Gesicht! Und wegen der Verkabelung unseres Gehirns kann uns kein anderes Bild so packen — und kein anderes Muster wird das jemals tun. - Was und wen halten Sie für die Trends und Trendsetter der Branche?
Zu den wichtigsten Trends in der Architekturbranche gehört die Nachhaltigkeit, das Design zur Förderung der menschlichen Gesundheit und des Wohlbefindens sowie neue Erkenntnisse in der Kognitionswissenschaft, die uns zu verstehen helfen, was unser Gehirn sehen soll. Weitere Informationen zu letzteren finden Sie auf unserer Website: geneticsofdesign.com. - Welches Buch sollten Architekten in dieser Branche gelesen haben?
Ich muss das Buch empfehlen, das ich zusammen mit dem Tufts University Professor Justin B. Hollander, geschrieben habe: Cognitive Architecture, Designing for How We Respond to the Built Environment (Rutledge, 2015), und eines von einem Nobelpreisträger für Neurowissenschaftler über die Gründe, warum Kunstwerke entstehen: Eric Kandel, The Age of Insight (2012). Es gibt auch ein gutes kleines Einführungsbuch von Oxford University Press. - Was ist/war Ihre Lieblingsmusik beim Entwerfen?
Das Summen eines kleinen Cafés; das Murmeln der Menschen, die reden und das Klirren der Kaffeetassen ist irgendwie sehr beruhigend und bringt mich dazu, das Beste zu denken.
Janice M. Ward
ist Schriftstellerin, Designerin, Bloggerin und MINT-Befürworterin. Gemeinsam mit Ann Sussman ist sie Autorin der Titelstory der Juni 2016-Ausgabe des Planning Magazine: Mit Eyetracking und anderen biometrischen Tools helfen sie Planern, gebaute Umgebungen zu gestalten. Mehr Infos unter acanthi.com und geneticsofdesign.com.
FÜNF ANTWORTEN
- Erzählen Sie uns von Ihren Top 5 Sportanlagen.
Ich wurde in Boston geboren, also zieht es mich in den Fenway Park, der als eines der 10 wichtigsten historischen nordamerikanischen Stadien gelistet ist. Es ist der lokale, sentimentale Favorit. - Welche Architekten und Gebäude haben Sie nachhaltig beeindruckt?
Zu unserem 20. Hochzeitstages besuchten mein Mann und ich Frank Lloyd Wright’s Falling Water. Atemberaubend. Nicht bequem nach heutigen Maßstäben, aber erstaunlich. Stellen Sie sich ein 5.300 m² großes Haus vor, das über einem Wasserfall mit Gewächshaus und einer Treppe gebaut wurde, die hinunter zu einem Bach führt. - Was und wen halten Sie für die Trends und Trendsetter der Branche?
Architektur sollte mit dem technologischen Wandel Schritt halten. Nicht nur die Gebäudetechnik. Design-Schulen sollten Initiativen aus den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen, Mathematik (STEM), einschließlich Neurowissenschaften, Biologie, Informatik und biometrische Werkzeuge integrieren, um menschenzentrierte, datengesteuerte Umgebungen zu entwickeln. - Welches Buch sollten Architekten in dieser Branche gelesen haben?
Die Technik entwickelt sich so schnell, dass ich dazu tendiere, Online-Inhalte in Websites, Blogs und Magazinen zu lesen. Zwei Favoriten sind Architectural Record und Dwell. “The Hidden Life of Trees: What They Feel, How They Communicate” von Peter Wohlleben ist das Buch, das ich gerade genieße. - Was ist/war Ihre Lieblingsmusik beim Entwerfen?
Während des Schreibens höre ich oft Bach, Eliot Fisk oder Andre Segovia. Sanfte, instrumentale Musik ohne Ablenkung.