Die Mehrzweckhalle Ingerkingen
Das Leben geht weiter
Die schwäbische Sparsamkeit passt hervorragend zur Idee des zirkulären Bauens: Das Material ausgedienter Bauwerke endet nicht auf der Deponie oder wird „thermisch verwertet“, sondern in eine neue Nutzungsphase überführt.
Weiterbauen
Das Konzept des Weiterbauens wird seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte praktiziert. Heute ist es absolut zeitgemäß, denn es erfüllt den Wunsch nach Kontinuität und zeigt einen pragmatischen Umgang mit Energie und Material. Früher war die schwere Zugänglichkeit von Materialien der Hauptgrund für das Weiterbauen, heute ist es, angesichts der multiplen Krisen dieser Welt, schlichtweg erforderlich.
Das oberschwäbische Ingerkingen bei Biberach an der Riß ließ im Wettbewerb offen, ob die bestehende Mehrzweckhalle in die Neukonzeption integriert oder einem Ersatzneubau weichen sollte. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Grundschule, dem Musikerheim und der Feuerwehr war und ist die Halle Zentrum des gesellschaftlichen Dorflebens.
Neben dem Schulsport dient die Mehrzweckhalle Ingerkingen den ortsansässigen Vereinen als Treffpunkt, Veranstaltungs- und Trainingsort. Sie war 1964 nach den Plänen von Pfalzer und Schenk als Sport- und Turnhalle der östlich angrenzenden Grundschule errichtet worden. Mit jedem Umbau verlor das Gebäude allerdings schrittweise seine einst beachtliche typologische und ästhetische Qualität.
Erhalten
Beim ausgeschriebenen Wettbewerb konnte sich der Entwurf mit dem maximalen Bestandserhalt durchsetzen und die Mehrzweckhalle vor dem drohenden Abriss und Ersatzneubau bewahren. Das Resultat ist ein Gebäude, dessen Geschichte deutlich ablesbar ist.
Wenngleich der erhaltene Bestand keinen herausragenden künstlerischen Wert besitzt und von den Dorfbewohner:innen nicht als „schön“ eingestuft wird, stellte er für die Planer einen hervorragenden Dialogpartner dar. Da sich ein Teil des Gebäudes einfach und funktionsfähig in die Neukonzeption integrieren ließ, erachteten sie den Erhalt als selbstverständlich.
Um den Abriss auf ein Minimum zu reduzieren, wurden Fundamente und Bodenplatte, Decken und die massiven Wände im nördlichen Teil sowie der straßenseitige Bühnentrakt in die Planung integriert. So konnten insgesamt 60 Prozent der Baumasse erhalten werden. Da die Hallenlänge des Vorgängerbaus exakt den DIN-Anforderungen einer Einfeldhalle entsprach, musste allein die Südfassade rückgebaut und versetzt werden. So entstand mit vergleichsweise wenigen Eingriffen eine normgerechte Einfeldhalle.
Wahrnehmen
Bestand und Neubau sind durch ihre Konstruktion und Materialisierung ablesbar. Der massive Bestand wurde gedämmt und entsprechend dem Originalputz verputzt. Die Aufstockung und Erweiterung in leichter Holzrahmenbauweise wird mit einer hinterlüfteten Holzfassade ablesbar gemacht. Insbesondere an der West- und Nordfassade wird so die Baugeschichte der Halle erzählt.
Die bestehende Giebelwand wurde Richtung Süden erweitert und mit zwei gegenläufigen Pultdächern der Aufstockung und des Hallendachs überbaut. Im Norden wird die durchlaufende Linie zwischen Alt und Neu nur durch die neue Türe des Sportlereingangs und einer leichten Stahltreppe getrennt. Der Versatz von rund 12 Zentimeter, der aus der schlankeren Wandkonstruktion im Holzrahmenbau im Vergleich zum außen gedämmten Mauerwerk resultiert, schärft die Plastizität des Bauwerks zusätzlich.
Die Wahrnehmung der Holzfassade wandelt sich mit dem Standpunkt des Betrachtenden. Je frontaler sich dieser zu der Nordfassade befindet, desto sichtbarer werden die Fenster hinter der Holzlattung. Im Laufe der Zeit wird die unbehandelte Holzfassade vergrauen. Dieser natürliche Prozess wird das Haus bereichern, weil er das Holz – im Kontrast zu mineralischen, metallischen Baustoffen – als organischen Baustoff unterstreicht.
Reduzieren
Das Energiekonzept basiert auf der Reduktion von technischen Einbauten und deren einfacher Revisionierbarkeit. Unter Berücksichtigung der natürlichen Belüftung wurde die Lüftungsanlage auf ein Minimum reduziert und weitestgehend als Sichtinstallation ausgeführt.
Die Metallkonstruktionen für Tore, Sportgeräte und Bühne, sowie sämtliche technische Einbauten sind einheitlich schwarz lackiert und treten damit in den Hintergrund. Die Schichtung der technischen Einbauten ermöglicht einerseits eine einfache Wartung und wird andererseits zum gestalterischen Element – so auch bei der revisionierbaren Deckenbekleidung in Foyer und Treppenraum, bei der sämtliche Elektroinstallationen sichtbar in die offenen Fugen gesetzt wurden. Eine für das Projekt entwickelte Garderobenstange kann je nach Nutzungsanforderung in Einzelteilen zerlegt und verstaut werden.
Schwaben
Um Kosten zu sparen, wurde die alte Halle von örtlichen Vereinen ehrenamtlich entkernt und ausgebaute Sanitärobjekte sowie die Kücheneinrichtung wiederverkauft. Auch die Leistenschalung der ehemaligen Holzbekleidung des Hallenraums fand als Fassade einer nahegelegenen Waldhütte eine zweite Nutzungsphase.
Die schwäbische Sparsamkeit passt hervorragend zur Idee des zirkulären Bauens: Das Material ausgedienter Bauwerke endet nicht auf der Deponie oder wird „thermisch verwertet“, sondern in eine neue Nutzungsphase überführt. Folgerichtig wählten die Planer bei der Sanierung die Materialien und Fügungen so, dass ein Großteil der Baustoffe bei einem möglichen Rückbau sortenrein trennbar und in die Kreislaufwirtschaft zurückgeführt werden können.
Fazit
Die Mehrzweckhalle Ingerkingen zeigt die Vorteile einer behutsamen Sanierung im Vergleich zu einem Neubau. Neben der im Bauwerk gebundenen grauen Energie und dem Erinnerungswert des Gebäudes bietet der Dialog zwischen Alt und Neu einen ästhetischen Mehrwert.
Im Vergleich zu einem möglichen Ersatzneubau stellte sich die Sanierung der Mehrzweckhalle Ingerkingen zudem als wirtschaftlicher heraus – und kann als Vorbild für viele sanierungsbedürftige Hallen in Deutschland dienen.
Projektdaten
Planer
Atelier Kaiser Shen, Stuttgart
Bauherr
Gemeinde Schemmerhofen
Eröffnung
2024
Adresse
Mehrzweckhalle Ingerkingen
Schlägweidestraße 2
D — 88433 Schemmerhofen
Fotos
Brigida González
AKS (Bestand)
Text
Atelier Kaiser Shen

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