Sportification of Architecture

Prinzipiell lässt sich alles beklettern

Fallschutzbeläge und Fallschutzssysteme sind mindestens so wichtig wie die Geräte, von denen wir herunterfallen.

Aline Viola Otte ist Expertin für die Frage, wie Sportmöglichkeiten besser in Architektur integriert werden können. “Sportification of Achitecture“ nennt sich dieser Ansatz.

Aline Viola Otte ist Archi­tektin und Grün­derin des Büros für Raum­sport. Sie hat das „Bould­er­Blöckle“ entwi­ckelt. Das ist eine inner­städ­ti­sche, mobile Klet­ter­wand, die öffent­lich zugäng­lich ist. Bis vor kurzem stand der Prototyp unter der Pauli­nen­brücke in Stutt­gart Mitte/Süd. Dieser hatte einen Über­hang von 35°, war 3 Meter hoch und hatte 10 m² Klet­ter­fläche.

Das Konzept greift auf viel­fäl­tige Weise wesent­liche Themen und Thesen für die Zukunft des Sports und Sport­raums auf: Öffent­lich zugäng­lich; urban; kostenlos; nieder­schwellig; inte­grativ wie inklusiv auch für neugie­rige und nicht sport­lich aktive Menschen.

Neben dem Projekt „Bould­er­Blöckle“ ist Aline Viola Otte Expertin für die Frage, wie Sport­mög­lich­keiten besser in Archi­tektur inte­griert werden können. “Spor­ti­fi­ca­tion of Achi­tec­ture“ nennt sich dieser Ansatz.

Über all das sprach Frau Otte mit der Zukunfts- und Trend­for­scherin Anja Kirig. Oder andersrum. Frau Kirig beschäf­tigt sich seit vielen Jahren mit der Methodik von Mega­trends und den daraus resul­tie­renden gesell­schaft­li­chen Verän­de­rungen, vor allem in den Berei­chen Sport und Tourismus.

S’Boulderblöckle integriert Sport in den Alltag und ermöglicht einen leichten Einstieg in den Boulder- und Klettersport. Die ersten Versuche gelingen auch in Turnschuhen.

Was macht den Kern­ge­danken des „Bould­er­blöckle“ aus?

Mein Raum­sport­mo­bi­liar inte­griert Sport in den Alltag. Das Bould­er­blöckle ermög­licht einen leichten Einstieg in den Boulder- und Klet­ter­sport. Die ersten Versuche an der Wand gelingen auch in Turn­schuhen. Bouldern ist zwar ein Indi­vi­du­al­sport, der sich gut alleine in der Mittags­pause ausüben lässt. Bouldern ist aber auch sehr kommu­ni­kativ, da gemeinsam nach Lösungs­stra­te­gien gesucht wird. Somit ermög­licht Bouldern im öffent­li­chen Raum kleine, persön­liche Erfolgs­ge­schichten, an denen auch Zuschauer ihren Spaß haben.

Und das ist der andere wich­tige Aspekt des Bould­er­blöckle: Das Projekt macht über den Bould­er­sport hinaus ein Angebot an alle Bürger:innen. Beim Proto­typen gab es beispiels­weise eine umlau­fende Sitz­bank.

Welche Rolle spielt dabei der öffent­liche Raum?

Öffent­li­cher Raum ist komplex und kontro­vers. Er erfor­dert Kommu­ni­ka­tions- und Kompro­miss­be­reit­schaft. Ungleich­heiten müssen ausge­halten werden. Aktuell ist öffent­li­cher Raum vor allem ein Konsum­raum, der manche Gruppen von Beginn an ausschließt. Das betrifft auch Sport­an­lagen, wenn sie Nicht-Sportler ausgrenzt.

Wer öffent­li­chen Raum für seine Inter­essen zuge­spro­chen bekommt, sollte sich dieser Verant­wor­tung und dem Privileg bewusst sein.

Konnte das Bould­er­Blöckle unter der Pauli­nen­brücke diesem Anspruch gerecht werden?

Gesamt­ge­sell­schaft­liche Probleme zu lösen, kann eine Sport­ler­gruppe über­for­dern. Eine städ­ti­sche Mitver­ant­wor­tung ist daher unver­zichtbar, insbe­son­dere wenn es sich um einen Brenn­punkt wie an der Pauli­nen­brücke handelt. Um ein gutes Mitein­ander zu gewähr­leisten, benö­tigte es spezi­elle Ange­bote – etwa für Obdach­lose. Sozi­al­ar­beiter fungierten als profes­sio­nelle Vermittler, und eine inten­si­vere Reini­gung des Platzes war erfor­der­lich.

Häufig bieten Gebäude durch ihre baulichen Eigenschaften multiple sportliche Bewegungsmöglichkeiten. Parkourläufer oder Skater zeigen bereits, wie ein Geländer zum Sportgerät wird.

Welchen Stel­len­wert werden deiner Ansicht nach mobile Sport­raum­an­lagen in Zukunft haben?

Sport im öffent­li­chen Raum wird in Zukunft fest zum Stadt­bild gehören. Mobile Sport­raum­an­lagen werden dafür ein wesent­li­ches Instru­ment sein. Mehr Home-Office beschleu­nigt den Prozess vom Aussterben der Innen­städte. Es benö­tigt neue Modelle, diese wieder zu beleben. Ein Sport­areal am Stadt­rand ist nicht das, was eine Zukunfts­stadt auszeichnet.

Gleich­zeitig wird der infor­melle Sport auch den Stel­len­wert der ehema­ligen Kaffee­pause im Groß­raum­büro einnehmen. Für Selb­stän­dige und Frei­schaf­fende ist der flexible Umgang mit der Arbeits­zeit durchaus gängige Praxis. Entspre­chend dient ein gut gestreutes Netz an Sport­an­ge­boten der neuen Arbeits­welt.

Wie kann Sport in der öffent­li­chen Archi­tektur mehr inte­griert werden?

Dem städ­ti­schen Raum fehlt es bisher an sport­li­chen Heraus­for­de­rungen, insbe­son­dere für Erwach­sene. Prin­zi­piell lässt sich alles beklet­tern, aber das will kontrol­liert werden.

Gebäude bieten häufig bereits allein durch ihre bauli­chen Eigen­schaften multiple sport­liche Bewe­gungs­mög­lich­keiten. Park­our­läufer oder Skater zeigen bereits, wie ein Geländer zum Sport­gerät werden kann.

Ein paar Griffe an der Wand erzeugen jedoch kein Sport­gerät. Frei­zeit­sportler möchten in ihrer Betä­ti­gung ernst genommen werden. Für eine „Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tec­ture“ muss mehr mit Sport­ler­gruppen zusam­men­ge­ar­beitet werden. Dann zeigt sich, dass gar nicht jedes Haus, jeder Gehweg von Inter­esse ist. Dies verlangt aber eine inten­si­vere Planung, die Einbe­zie­hung von Betei­ligten und den Mut der Träger, Neues zu wagen.

“Sportification of Architecture“ beschreibt die Integration der individuellen Sportausübung in die gebaute Umwelt.

Was genau verstehst Du unter „Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tec­ture“?

Mit “Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tec­ture“ lässt sich ein relativ neues Phänomen beschreiben. Es geht um die Inte­gra­tion der indi­vi­du­ellen Sport­aus­übung in die gebaute Umwelt. Anders als beim klas­si­schen Sportbau, der in seiner Archi­tektur und Funk­tion weit­ge­hend abge­schlossen ist, werden mittels „Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tec­ture“ die Grenzen von Raum und Archi­tektur heraus­ge­for­dert.

Nur wenn Sport raum- und funk­ti­ons­über­grei­fend verstanden wird, kann eine Archi­tektur entstehen, die sich am Indi­vi­duum ausrichtet. Es lässt sich gut mit dem Erleben des Berg­stei­gers auf dem Gipfel verglei­chen. Für einen Moment eignet er sich den Berg an. Dieses Erfahren lässt sich auf inner­städ­ti­sche Gebäude über­tragen.

Wird Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tec­ture bereits umge­setzt?

In Kopen­hagen wurde 2019 das CopenHill eröffnet. Das ist eine Müll­ver­bren­nungs­an­lage, deren Außen­haut für Sport genutzt wird. Das Archi­tek­tur­büro BIG versuchte dabei, den Ansprü­chen der Sport­arten best­mög­lich gerecht zu werden. Zum Beispiel, in dem die jewei­ligen Sportler mit in die Planung einbe­zogen wurden.

Jetzt exis­tieren dort die längste künst­liche Klet­ter­wand der Welt, eine Kunst­stoff-Skipiste sowie eine Downhill­strecke, die sich für ernst­hafte Sport­aus­übungen eignen. Das erzeugt völlig neue Bilder von Gebäu­de­nut­zung. Spor­ti­fi­ca­tion of Archi­tektur macht also nicht nur auf die gesell­schaft­li­chen wie plane­ri­schen Defi­zite aufmerksam, sondern kann eine Anre­gung sein, diese auch zu besei­tigen.

Das waren wir.

Projektdaten

Idee

Büro für Raum­sport
Dipl.-Ing. Aline Viola Otte
Archi­tektin
Clau­di­us­straße 21
D — 70193 Stutt­gart

Interview

Anja Kirig
Zukunfts- und Trend­for­schung

Fotos

Blöckle: © Simon Hoff­mann (Offen­blende) 
Aline Viola Otte: © Fabian Fischer
Tages­licht:© bueroraumsport/Aline Viola Otte
Anja Kirig: © Gert Kraut­bauer

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